Neue Simulationsrechnungen zeigen: Wenn wir die richtige Strategie anwenden, ist es keine schlechte Nachricht, dass ein hoher Anteil der Neuinfektionen auf Superspreader zurückgeht.
Testen, tracen, isolieren (TTI) – das ist die Strategie, mit der nun nach dem „Lockdown“ die Pandemie eingedämmt werden soll [1]. Von der TU Wien und ihrem Spin-off-Unternehmen dwh wurde nun analysiert, wie stark sich die Infektionszahlen eindämmen lassen, wenn man konsequent und noch stärker als bisher auf effiziente Nachverfolgung setzt.
Das große Ziel ist, die sogenannte Reproduktionszahl R dauerhaft unter eins zu halten. Das bedeutet, dass eine infizierte Person im Durchschnitt weniger als eine weitere Person ansteckt. Wenn das gelingt, gehen die Krankheitszahlen zurück – im Gegensatz zu einem starken Anstieg, den man zu erwarten hat, wenn R über eins liegt.
Doch die Dynamik der Ansteckungen ist mit der Reproduktionszahl R noch nicht vollständig beschrieben. Ihr Wert ist aktuell regional sehr unterschiedlich. Wichtig ist auch der Dispersionsfaktor (englisch: „dispersion parameter“). Ein hoher Dispersionsfaktor bedeutet, dass viele der infizierten Personen jeweils eine ähnliche, relativ kleine Zahl weiterer Personen infizieren – die Krankheit wird also auf recht gleichmäßige Weise weiterverbreitet. Ein niedriger Dispersionsfaktor hingegen bedeutet, dass viele infizierte Personen gar niemanden oder nur sehr wenige Personen anstecken, während der Großteil der Neuinfektionen auf einige wenige Superspreader zurückzuführen ist, die für dutzende oder gar hunderte Ansteckungen verantwortlich sind [2, 3].
Superspreader: Unterschiedliche Szenarien
Das Forschungsteam, das unter der Leitung von Niki Popper seit Ende Jänner die Ausbreitung von COVID-19 in agentenbasierten Computermodellen simuliert, hat nun analysiert, wie sich unterschiedliche Dispersionsfaktoren auf die Krankheitszahlen auswirken. Dabei zeigt sich: Wenn ein großer Teil der Infektionen auf Superspreader zurückzuführen ist, wird Contact Tracing dadurch effizienter, und damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, die Zahl erkrankter Personen weiterhin eindämmen zu können.
Allerdings sind in diesem Stadium der Epidemie exakte Prognosen nicht möglich. Gerade dann, wenn der Dispersionsfaktor klein ist und die Dynamik von wenigen Superspreadern bestimmt wird, spielt der Zufall eine große Rolle. Diese Zufälligkeit wird im Computermodell nachgebildet: Genau wie in der Realität ereignen sich auch dort die Ereignisse, die zur Ausbreitung der Krankheit führen, rein zufällig. Allerdings können die Berechnungen beliebig oft wiederholt werden – jedes Mal mit unterschiedlichen Zufallsereignissen. Durch diesen Prozess (auch Monte Carlo Simulation genannt) bekommt man ein gutes Bild davon, wann und wie oft die Epidemie welchen Verlauf nimmt. Man kann die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass bei steigenden Fallzahlen die Maßnahmen Tracing und Quarantäne) ausreichend schnell greifen, um die Pandemie unter Kontrolle zu behalten.
Das Modell
Als Basis für die Szenarienrechnungen wurde ein speziell für Österreich entwickeltes Modell (Preprint verfügbar unter [5]) verwendet und adaptiert. Es wird dabei eine sehr effektive TTI Strategie angenommen, Menschen werden also sehr schnell aus den Ausbreitungsnetzwerken herausgeholt. Von folgenden Voraussetzungen wurde ausgegangen:
- Modellierte Tracing-Strategie: Wird eine Person positiv auf SARS-CoV-2 getestet, werden am selben Tag die restlichen Haushaltsmitglieder des Infizierten isoliert (Heimquarantäne) und innerhalb von 36 Stunden die direkten ArbeitskollegInnen sowie 75 % der potentiell infektiösen Freizeitkontakte ermittelt und ebenfalls für 14 Tage präventiv isoliert.
- Die bisherigen Lockerungsmaßnahmen (bis 1.7.) werden im Modell abgebildet. Berücksichtigt wird ein weiterhin reduziertes Kontaktverhalten in der Freizeit (basierend auf Mobilitätsdaten von Mobilfunkanbietern, die im Rahmen des WWTF geförderten Projektes „Synthese von Krankheitsausbreitungs- und Netzwerksdaten für die Covid-19-Simulation“ integriert werden) und, dass ein Großteil der Freizeitkontakte im Freien, also mit einer geringeren Ansteckungsgefahr, stattfindet.
- Die Annahme zum Superspreading
- A) eine angenommen Erkrankung mit hohem Dispersionsfaktor (ca. 0,8, kaum/keine Superspreader)
- B) niedriger Dispersionsfaktor (viele Superspreader, entspricht im Wesentlichen der Schätzung für COVID-19 aus der Literatur beispielsweise in [4])
- Die Simulationen wurden am 24.6. mit tagesaktuellem Daten- und Informationsstand gestartet, deshalb sind die Absolutwerte niedriger als die aktuellen Zahlen.
In diesem Computerexperiment geht es im Speziellen darum, welche Rolle gutes Tracing und Isolation potenziell infizierter Kontaktpersonen spielen. Neben der bekannten Tatsache, dass Tracing die Ausbreitung verlangsamt, zeigen die Ergebnisse, dass dank niedrigem Dispersionsfaktor neue Cluster besonders gut unter Kontrolle gebracht werden können und ein starkes Anwachsen der epidemischen Kurve mit höherer Wahrscheinlichkeit vermieden werden kann.
Abb.1: Ausgewählte, typische Epidemieentwicklungen mit starker TTI Strategie bei unterschiedlichen Dispersionsfaktoren. Blau: Dynamik dominiert durch Superspreader, rot: gleichmäßige Ausbreitung.
Wenn man von der aktuellen Situation mit derzeit gültigen Vorsichtsmaßnahmen ausgeht, werden durch die sehr starke, im Modell abgebildete TTI-Strategie (Testing, Tracing, Isolation) lokale Ausbrüche mit über 90 % Wahrscheinlichkeit eingedämmt. Würde sich die Epidemie hingegen mit hohem Dispersionfaktor ausbreiten, würde sich die epidemische Kurve bei der gleichen Strategie nur in weniger als 35 % der Fälle wieder eindämmen lassen. Auch Tracing hat Grenzen
Für die Zukunft muss man auch bedenken, dass Tracing nur innerhalb gewisser Grenzen möglich ist: Es benötigt personelle Ressourcen. In den Simulationen wird davon ausgegangen, dass die Kontaktverfolgung infizierter Personen weiterhin in allen Fällen möglich ist. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass eine effiziente Nachverfolgung jetzt ganz entscheidend ist“, betont Niki Popper. „Das bedeutet allerdings nicht, dass man einfach möglichst viele Personen für die Kontaktnachverfolgung einsetzen soll. Es geht um Qualität: Wir brauchen Leute, die auch dafür ausgebildet sind, die nötigen Ressourcen haben und nach einer klaren, vernünftigen Strategie vorgehen.“
Sollte die Anzahl der infizierten Personen deutlich steigen oder sollte es zu besonders großen Clustern kommen, könnte es passieren, dass die vorhandenen Ressourcen im Gesundheitssystem für ein effektives Tracing nicht mehr ausreichen. Diese Möglichkeit wird im Modell nicht berücksichtigt. Außerdem geht das Modell derzeit von einem gleichbleibenden Freizeitverhalten aus – das muss bei Prognosen für den Herbst, wenn Kontakte wieder verstärkt in Innenräumen stattfinden, ebenfalls neu überdacht werden.
Referenzen
[1] A. J. Kucharski u. a., „Effectiveness of isolation, testing, contact tracing, and physical distancing on reducing transmission of SARS-CoV-2 in different settings: a mathematical modelling study“, The Lancet Infectious Diseases, S. S1473309920304576, Juni 2020, doi: 10.1016/S1473-3099(20)30457-6.
[2] J. O. Lloyd-Smith, S. J. Schreiber, P. E. Kopp, und W. M. Getz, „Superspreading and the effect of individual variation on disease emergence“, Nature, Bd. 438, Nr. 7066, S. 355–359, Nov. 2005, doi: 10.1038/nature04153.
[3] B. M. Althouse u. a., „Stochasticity and heterogeneity in the transmission dynamics of SARS-CoV-2“, arXiv:2005.13689 [physics, q-bio], Mai 2020, Zugegriffen: Juni 16, 2020. [Online]. Verfügbar unter: http://arxiv.org/abs/2005.13689.
[4] B. M. Althouse u. a., „Stochasticity and heterogeneity in the transmission dynamics of SARS-CoV-2“, arXiv:2005.13689 [physics, q-bio], Mai 2020, Zugegriffen: Juni 16, 2020. [Online]. Verfügbar unter: http://arxiv.org/abs/2005.13689.
[5] M. R. Bicher, C. Rippinger, C. Urach, D. Brunmeir, U. Siebert, und N. Popper, „Agent-Based Simulation for Evaluation of Contact-Tracing Policies Against the Spread of SARS-CoV-2“, Epidemiology, preprint, Mai 2020. doi: 10.1101/2020.05.12.20098970.
Autor: Florian Aigner, TU Wien