Bereits seit Ende Jänner untersucht ein Team der dwh GmbH und der TU Wien mit Computermodellen die Ausbreitung von COVID-19 in Österreich. Die bisher getroffenen Vorhersagen sind eingetreten – etwa das Ausmaß, in dem sich die Ausbreitung der Krankheit durch Kontaktreduktion bremsen lässt (von ca. 40 % auf unter 20 % in der Woche ab dem 13. März). „Außerdem haben wir dann mit Modellrechnungen unter anderem die Bedarfsplanung an Krankenhausbetten für Wien und Niederösterreich unterstützt und dabei geholfen sicher zu gehen, dass zu jedem Zeitpunkt genug Kapazitäten zur Verfügung standen.“, sagt Niki Popper, Leiter des Simulationsteams und CSO der dwh.
Nun gibt es neue Daten, auch über die Dunkelziffer aktuell Erkrankter in Österreich, mit denen man die bisherigen Modelle genauer kalibrieren kann. So lässt sich der bisherige Verlauf mit Hilfe von Simulationen noch einmal rekapitulieren.
Verschiedene Dunkelziffern gleichzeitig
Bei Computermodellen, wie sie von der TU Wien und dem TU Wien-Spin-Off dwh entwickelt und verwendet werden, lässt sich der gesamte zeitliche Verlauf von der Ansteckung über den Beginn der Erkrankung bis hin zu einer eventuell nötigen Einweisung ins Krankenhaus oder die Intensivstation abbilden. Dadurch ist nun anhand aktueller Daten auch ein virtueller „Blick hinter die Kulissen“ des bisherigen Verlaufs möglich.
Dieser genauere Blick zeigt, dass Dunkelziffer und bestätigte Krankheitsfälle unterschiedliche zeitliche Verläufe nehmen. Es wäre zu einfach, die Dunkelziffer der Gesamterkrankten abzuschätzen, indem man bloß die Zahl der bestätigten Fälle immer mit einem bestimmten Faktor multipliziert, die Dunkelziffer ist kein gleichbleibender Prozentsatz der Gesamtzahl an Erkrankten. Außerdem zeigen die Modelle, dass man zwischen verschiedenen Dunkelziffern unterscheiden kann.
Alle COVID-19-Infizierten durchleben im Lauf der Erkrankung unterschiedliche Stadien. Während der Inkubationszeit (in der Simulation Stadium 1) erscheint man noch vollkommen gesund. In Stadium 2 beginnen langsam Symptome, und der oder die Erkrankte reagiert darauf. Eine Kombination aus der Reaktionszeit der Person und der Verfügbarkeit des Tests entscheidet, wann die Person dann ein positives Testergebnis erhält und dadurch in Stadium 3 übergeht: Erst in diesem Stadium werden Infizierte offiziell gezählt. Im Computermodell wird nun je nach Behandlung weiter unterschieden – zwischen Stadium 3a (Heimquarantäne), Stadium 3b (Normalbett im Krankenhaus) und Stadium 3c (Intensivbett).
Bei vielen Personen (im Modell wird ein Wert von 50% angenommen) nimmt COVID-19 einen (praktisch) asymptomatischen Verlauf. Diese Personen werden nie getestet und haben auch selbst keine Kenntnis von der Erkrankung. Sie werden im Modell als „Stadium 0“ zusammengefasst.
Die Personenzahlen in den unterschiedlichen Stadien erreichen in der Simulation ihren zeitlichen Höhepunkt nicht gleichzeitig, sie entwickeln sich asynchron. Erstens verstreicht immer eine gewisse Zeitspanne, bis man nach einer Infektion Symptome entwickelt, bis man getestet wird und bis die Testergebnisse vorliegen. Und zweitens dauert die Krankheit auf Basis der aktuellen Literatur nicht bei allen Menschen gleich lange: Personen mit asymptomatischem Krankheitsverlauf haben die Infektion vermutlich rasch wieder hinter sich, bei schweren Fällen, die einen Krankenhausaufenthalt nötig machen, dauert die Krankheit viel länger. All das kann im agentenbasierten Modell berücksichtigt werden, daher liegen die Kurven des zeitlichen Verlaufs (siehe Graphik) nicht übereinander, sondern sind gegeneinander verschoben.
Zeitverzögerung – auch bei einer möglichen zweiten Welle
Die Zahl der Personen, die offiziell als COVID-19-Kranke gelten, hat in den ersten Apriltagen vorerst ihr Maximum erreicht. Doch die damals positiv getesteten Personen machten bereits vorher die Stadien 1 und 2 durch. Die Simulation ergibt, dass das Maximum der infizierten Personen (inklusive Dunkelziffer) daher bereits wahrscheinlich zwei Wochen früher aufgetreten ist.
„Unsere Simulationen zeigen, dass wir den Höhepunkt der Krankheitszahlen der vergangenen Welle schon länger hinter uns haben, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gleichzeitig mahnt uns das allerdings auch zur Vorsicht“, erklärt Niki Popper. „Sollte auf Grund der Lockerung von Maßnahmen die Zahl der Infektionen wieder ansteigen, wird es nämlich wieder genau dieselbe Zeitverzögerung geben. Das heißt, wir können den Anstieg in den Tests erst dann bemerken, wenn die wahre Zahl der Infektionen in der Bevölkerung bereits deutlich angestiegen ist.“
Aufgrund all dieser Zeitverzögerungen muss man gerade jetzt, wo sich die Zahlen gut entwickeln, vorausschauend agieren. „Wir müssen gewissermaßen antizyklisch denken: Als die Zahl der bestätigten Krankheitsfälle nach Einführung der Maßnahmen langsamer gewachsen ist als zuvor war das ein sehr gutes Zeichen“, sagt Niki Popper. „Es ist in vielen Bereichen wichtig, zu einer neuen, weniger strengen Normalität zu finden. Dabei müssen wir vorsichtig vorgehen, weil wir eine zweite Welle der Infektion nicht sofort an den offiziell bestätigten Zahlen erkennen würden, sondern wieder erst mit Verzögerung. Diese Balance zu finden, ist eine schwierige politische und gesellschaftliche Aufgabe, wir hoffen mit unseren Modellen einen Beitrag dafür liefern zu können.“
Wöchentlich aktualisierte Prognosedaten
Inzwischen hat sich das Team mit der Medizinischen Universität Wien/Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Gesundheit Österreich GmbH zum COVID Prognose Konsortium zusammengeschlossen. Die drei Forschungsgruppen erstellen nun wöchentlich gemeinsame Prognosen zum Verlauf der an COVID-19 erkrankten Personen in Österreich sowie zu den aktuell verfügbaren Kapazitäten im Spitalsbereich.
Zusätzliche Information
Gemeinsames Vorgehen ist wichtig, etwa die Förderung von Projekten zur Datenakquise durch den WWTF, die auch bei Kolleg_innen an der Uni Wien gebündelt werden, oder weitere Projekte, gefördert durch die Gemeinde Wien bzw. weltweite Strategien, zusammengefasst von CSH Wien.
Autor: Florian Aigner, TU Wien