Szenarien Modellierung in Europa – der European Scenario Hub der ECDC

  • 30.09.2022
post-image

Der Versuch eines Überblicks über die internationalen Modellierungsansätze

Im Rahmen der Arbeit zu GECKO wurde seitens der Bundesregierung auch gefragt, ob es in anderen Staaten mittelfristige Modellierungen zum Pandemieverlauf gibt, welche Parameter genutzt werden und ob die Ergebnisse eingesetzt werden. Niki Popper als GECKO Mitglied hat mit seiner Gruppe hat versucht entsprechend bei der Beantwortung beizutragen. Ein Gesamtüberblick ist schwierig, der ECDC Modelling Hub ist ein wichtiger Ansatz für internationalen Vergleich und Austausch.

In beinahe allen europäischen Ländern werden seit Beginn der Pandemie Modelle erstellt, die mittlerweile auf Szenarien Modellierung erweitert wurden (Anmerkung: bei mittelfristigen Berechnungen kann immer nur von Szenarien gesprochen werden). In den USA sind als bekannte Beispiele für Modellierung die Johns Hopkins University oder die Center for Communicable Disease Dynamics (CCDD) an der Harvard T.H. Chan School of Public Health zu nennen. Auch weitere Länder (Israel, Brasilien et al) arbeiten an Modellen. Ein gesamtheitlicher Überblick ist ad hoc nicht vernünftig lieferbar, da dies eine geeignete systematischen Modell Review benötigen würde, um keine Modelle zu vergessen und umgekehrt zumindest grundsätzliche Aussagen über Methode, Qualität und Limitierungen treffen zu können. Das bedeutet, dass man basierend auf wissenschaftlichen Publikationen und anderen Informationen strukturiert, aktuelle Ansätze und deren Methodik evaluieren würde.

In den USA besteht zur Verbesserung des Überblicks und der Vergleichbarkeit seit Beginn der Pandemie (März 2020) der Covid-19 Forecast Hub. Für mittelfristige Modelle und Szenarien wurde darauf aufbauend der Covid-19 Scenario Hub gegründet, an dem sich mehr als 50 Einrichtungen beteiligen. Hier wurden mittlerweile 15 Szenarienvergleiche gerechnet, die sich u.a. mit unterschiedlichem Impfverhalten, unterschiedlichen Vireneigenschaften aber auch verschiedenen NPI Strategien beschäftigen.

Auf Basis dieser Arbeit wurde von der ECDC gemeinsam mit dem Centre for Mathematical Modelling of Infectious Diseases (CMMID) an der London School of Hygiene & Tropical Medicine (LSHTM) ebenfalls ein ECDC Modellierungs-Hub gestartet und betrieben. Im European Scenario Hub werden derzeit nicht nur entsprechende, mittel- und langfristige Szenarien aus vielen europäischen Ländern gesammelt, verglichen und veröffentlicht, sondern auch die verschiedenen Methoden wissenschaftlich analysiert.

Selbstbeschreibung ECDC Scenario-Hub (zur Eröffnung): „The Scenario Hub will be updated by collating long-term modelling scenarios for thirty EU/EEA Member States, the UK and Switzerland. Each potential scenario is composed of one or more plausible and policy-relevant variables (which could be, for example, biological parameters such as the rate of waning immunity, or assumed future changes in contact behaviours). Scenarios cover a period of nine to twelve months, including the coming winter period. Instead of just using single projections, the hub combines and compares different modelling projections from different modelling teams across Europe. The hub can thus contribute to increased confidence and robustness of drawn conclusions and insights.”

Dieser Schritt zur internationalen Vergleichbarkeit ist u.a. wichtig, um mögliches Rosinen-picken zu verhindern, d.h. die Möglichkeit für Entscheider sich nach Maßgabe gewünschter Ergebnisse, bestimmte Szenarien oder Modellansätze auszusuchen. Zur international vernetzten Qualitätssicherung, Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit der Methodik gab es deshalb bereits vor der Covid-19 Pandemie entsprechende Diskussionen und Arbeiten, etwa durch die Society for Medical Decision Making, siehe speziell [1], die Modelling Good Research Practices in der Gesundheitssystemforschung etablieren helfen sollen oder auch zur Auswahl von Methodiken z.B. [2]. Qualität und Intensität der Forschung, wie auch der Einsatz im Policy Making ist dabei nach wie vor jedoch international sehr unterschiedlich.

Welche epidemiologischen Parameter werden dazu verwendet?

Bei der Umsetzung der Covid-19 Modelle werden sehr unterschiedliche Parameter und Quellen genutzt. Auch hier variiert die Qualität zwischen den Ländern stark. Welche epidemiologischen (und anderen Parameter) genutzt werden, hängt von der Fragestellung der Policy Maker sowie den Möglichkeiten des jeweiligen Modellierungszuganges ab. Um die von Policy Makern gewünschten Szenarien abdecken zu können, beschäftigen sich die eingereichten Modelle im European Scenario Hub konkret mit folgenden Einflussfaktoren bzw. Modelldetails:

  • Modeling NPI
  • Compliance NPI
  • Contact Tracing
  • Testing
  • Vaccine Efficacy Transmission
  • Vaccine Efficacy Delay
  • Vaccine Hesitancy
  • Vaccine Immunity Duration
  • Natural Immunity Duration
  • Variants
  • Hospitalisation
  • ICUs
  • Case Fatality Rate
  • Infection Fatality Rate
  • Symptomatics/Asymptomatics
  • Age Groups
  • Importations
  • Confidence Interval Method
  • Calibration
  • Spatial Structure

Um diese Einflussfaktoren abbilden zu können werden (minimal) allgemein zugängliche Daten genutzt. Diese gibt es zu Cases, Hospitalisations und Deaths von Euro Forecast Hub / JHU (Johns Hopkins University) und ECDC, Vaccinations und Tests von Our World in Data, Vaccination Effectiveness vom VIEW-Hub, Variants von ECDC und Response Measures von ECDC, Contact Matrices von CoMix.

Die unterschiedlichen Länder nutzen darüber hinaus zur Abbildung aller genannten Einflussfaktoren aktuelle Studien sowie nationale Quellen, die üblicher Weise eine bessere Datenqualität liefern. Dies ist (wie auch in Österreich) nicht standardisiert zu ermitteln und unterscheiden sich in der Qualität stark. Beispielhaft sind die methodischen Zugänge für den Scenario Hub Details in den Modellbeschreibungen der internationalen Modelle zu finden. Einige europäische Länder sind hier speziell im Bereich der Surveillance, sowie bei der Datenerfassung zum Status des Gesundheitssystems selbst stark im Vorteil gegenüber Österreich. Über die genannten Aspekte hinaus werden weiter gehende Datenquellen, wie Sequenzierungsdaten, Abwasseranalysen, Mobilitätsdaten u.v.m. auch in anderen Ländern genutzt, in Österreich etwa auch Daten des Austrian Corona Panel Project (ACPP).

Werden auf Basis der Ergebnisse dieser mittelfristigen Modellierungen bereits konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gesetzt?

Inwiefern die Ergebnisse konkret eingesetzt werden, ist schwierig zu beantworten. Einschätzungen wie die Risikobewertung zu Covid-19 des Robert Koch Institutes (RKI) fußen ähnlich wie Empfehlungen des NIG oder von GECKO in Österreich auf einer Vielzahl von Informationen, darunter manchmal und bei Bedarf auch auf Szenarien aus Modellen. Die ECDC hat sich deren Einsatz jedenfalls zum Start des Scenario Hubs als Ziel gesetzt. Zitat “It will also play a key role in supporting ECDC’s risk analysis, assessment of public health advice and strategic planning.”

Zum Status Quo: bisher wurden am European Scenario Hub 3 Szenarien (Vergleiche) umgesetzt. Derzeit haben sich allerdings erst insgesamt 8 Gruppen beteiligt. Der Report zum Scenario 1 wurde am 12.9. veröffentlicht. In dem ersten Vergleich wurden zum Beispiel 2x2 Szenarien gerechnet, die sich mit Impfwirkung und Immune Waning beschäftigen: “Slow summer booster campaign (Summer)” oder “Fast autumn booster campaign (Autumn)” sowie “Optimistic slow immune waning (Strong)” oder “Pessimistic fast immune waning (Weak)”. Szenarien werden dann wie folgt für die Länder bzw. Szenarien dargestellt:

Beispiel für den Vergleich zwischen verschiedenen Ländern, Quelle: https://covid19scenariohub.eu/report1.html

Eine entsprechende Standardisierung der Szenarienauswahl ist für Policy Support wünschenswert. (Mit dem österreichischen Variantenmanagementplan (VMP) wurde durch die Festlegung von gemeinsam festgelegten Szenarien, hier ein erster Schritt gemacht.) Auch entsprechende Vergleiche zu den verschiedenen Parametern werden umgesetzt, wobei auf Grund der langen Dauer der Pandemie, konsistente Datenvergleiche auch bei der Modellierung immer schwieriger werden. Z.B. wurden in Bezug auf den Impffortschritt in den Niederlanden und Griechenland bereits eine zweite Auffrischungsdosis für die Altersgruppe 60+ eingeführt:

Beispiel für den Vergleich zwischen verschiedenen Ländern, Quelle: https://covid19scenariohub.eu/report1.html

Der aktuelle, dritte Szenarien-Vergleich basiert auf dem EU Dokument “COVID-19 - Sustaining EU Preparedness and Response: Looking ahead” und soll eine Reihe von Szenarien für die künftige, langfristige (10 Jahre) COVID-19-Belastung abdecken (von einer “verringerten Bedrohung” bis hin zu “nicht zu bewältigenden Wintern/einer neuen Pandemie”), sowie Variationen von Impfkampagnen und die Merkmale neuer Varianten.

In den meisten Ländern dürfte nach wie vor kein standardisierter Einsatz solcher Modelle umgesetzt sein, wenn das Bestreben dazu auch über die ECDC hinaus besteht. Als Beispiel kann etwa für Deutschland das Projekt OptimAgent genannt werden, das in 10 Teilprojekten optimierte Strategien zur Kontrolle von Epidemien in hochgradig heterogenen Populationen entwickeln soll. “Ziel von OptimAgent ist es, ein standardisiertes (!) modellbasiertes Framework zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu entwickeln, mit dem ein breites Spektrum an Maßnahmen zur Infektionskontrolle evaluiert werden kann.” Die Laufzeit des Projektes ist bis 2025 angesetzt. Die aktuelle Situation zeigt, dass der Einsatz mittelfristiger Szenarien in der Umsetzung, in der Qualitätssicherung (z.B. Daten, internationaler Vergleich) und im Bereich des dokumentierten, nachvollziehbaren Einsatzes für Policy Maker (z.B. zur Entwicklung von Empfehlungen und Strategien wie jene der Lancet Commission erst am Anfang steht.


Literatur

  1. Pitman R, Fisman D, Zaric GS, Postma M, Kretzschmar M, Edmunds J, Brisson M; ISPOR-SMDM Modeling Good Research Practices Task Force. Dynamic transmission modeling: a report of the ISPOR-SMDM Modeling Good Research Practices Task Force Working Group-5. Med Decis Making. 2012 Sep-Oct;32(5):712-21. PMID: 22990086. https://doi.org/10.1177/0272989X12454578
  2. Miksch F, Jahn B, Espinosa KJ, Chhatwal J, Siebert U, Popper N (2019) Why should we apply ABM for decision analysis for infectious diseases?—An example for dengue interventions. PLoS ONE 14(8): e0221564. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0221564